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Vierecke

Ansprache von Dr. Christoph Münz
Der Holocaust und die Frage nach dem gerechten Gott

Ansprache von Dr. Christoph Münz am 9. November 2004 in Ahlen anlässlich der Gedenkfeier zur Reichspogromnacht
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Die Frage nach dem gerechten Gott ist so alt wie der Glaube daran, dass Gott gerecht sei. Aber - so die jüdische Tradition - am Anfang stand nicht der Zweifel des Menschen an der Gerechtigkeit Gottes, sondern - wenn man so will - der Zweifel Gottes an der Gerechtigkeit des Menschen. Rabbi Berechja erklärte: "Als der Heilige, gelobt sei er, den ersten Menschen erschuf, sah er, dass Gerechte und Böse von ihm hervorgehen würden, und er sprach: Wenn ich ihn [den Menschen] bilde, werden Bösewichter entstehen, wenn ich ihn nicht erschaffe, wird es keine Frommen geben. Darum scheuchte der Ewige, gelobt sei Er, den Weg der Frevler vor seinem Angesicht hinweg, und voll Erbarmen gab er dem Menschen eine lebendige Seele. ... Also um der Gerechten willen erschuf der Allmächtige den Menschen." (zit.n. Ginzel 1980, S.257f).

So scheinen das Böse und die Gerechtigkeit von Beginn an unmittelbar mit der Schöpfung selbst verknüpft. Ohne Schöpfung und Erschaffung des Menschen keine Gerechtigkeit, ohne Gerechtigkeit aber auch kein Übel. Dies entspricht dem biblischen Bild vom Menschen als freiem Menschen. Hierzu heißt es im Talmud: "Rabbi Chanina bar Papa erklärte: Der Engel, der zur Überwachung der Empfängnis bestellt ist, heißt Lailah. Wenn eine Empfängnis stattfindet, nimmt er den Samentropfen und legt ihn vor den Heiligen, gelobt sei Er, und spricht: 'Herr der Welt, was wird das Geschick dieses Tropfens sein? Wird sich ein starker oder ein schwacher Mensch entwickeln? Ein weiser Mensch oder ein törichter? Ein reicher oder ein armer Mensch?' Das wird alles von Gott entschieden. Nur eine Frage stellt der Engel nicht, und sie wird auch nicht von Gott entschieden: 'Wird es ein gerechter oder ein frevelhafter Mensch werden?" (zit.n. Münz 1996, S.204, Anm.6). Wenn es aber in der Freiheit des Menschen liegt, ein Frevler oder ein Gerechter zu sein, so liegt auch das Geschick des Menschen in seiner Hand, dann liegt es in der Verantwortung des Menschen, ob ihm Leid oder Freud, Glück oder Unglück widerfährt.

Hieraus entwickelte sich im Judentum eines der mächtigsten religiösen Konzepte, mit denen man das Leid und das Böse erklärte: Mipnej Chata'neu - unserer Sünden wegen geschieht... Bei aller Differenzierung - wie sie etwa im Streitgespräch Abrahams mit Gott um die Zerstörung Sodoms, oder aber in der Auseinandersetzung Hiobs mit seinen Freunden deutlich wird - wird etwa die Fortführung ins babylonische Exil, die beiden Zerstörungen des Tempels in Jerusalem und manche andere Katastrophe im Lauf der jüdischen Geschichte anhand dieses Konzeptes gedeutet. Unserer Sünden wegen geschah... Und die Wirkmächtigkeit dieser Vorstellung zumindest in orthodoxen Kreisen scheint ungebrochen bis in das Zentrum des Infernos in diesem Jahrhundert - den Holocaust - hineinzureichen.

Im Umfeld des Eichmann-Prozesses im Jahre 1961 äußerte sich der in Italien geborene, seit 1936 in Palästina lebende orthodoxe Rabbiner Immanuel Menachem Hartom wie folgt: "Nicht umsonst, so scheint es, bediente sich der Herr des deutschen Volkes als Zuchtrute, um sein Volk schwer zu schlagen: Eben jener Staat, in dem die Assimilation die größten Ausmaße angenommen hatte, in dem die Gleichheit zwischen den Juden und den Bürgern des Landes vollendet war, in dem sie zum Höhepunkt ihrer Identifikation mit dem Land ihres Aufenthaltes und zur Ableugnung ihres Landes gelangten, dies war der Staat, der ihnen auf extremste und grauenvollste Art in Erinnerung rief, dass sie ... ein Fremdkörper im Staat sind, ein Körper, den es zu verfolgen und zu vernichten gilt. Und diese Bosheit der Frevler wurde verwirklicht..., weil der Heilige, Er sei gepriesen, nicht ungestraft lässt' (Ex.34,7), denn gerecht ist er in all seinen Wegen. Wir müssen bekennen, dass es der Gerechtigkeit entsprochen hätte, hätte Gott sein Volk gänzlich vernichtet, weil es die Worte seiner Tora geleugnet hat. Wir müssen bekennen, dass Gott auch während der schrecklichen Shoah mit uns nicht nach dem strengen Recht ... verfahren ist, vielmehr einen beachtlichen Teil seines Volkes geschont hat". (zit.n. Münz 1996, S.207f.) Mipnej chata'neu - Unserer Sünden wegen!

Aber dann, ab Mitte der 60er Jahre tritt doch eine gewaltige Wende im religiösen jüdischen Denken ein und es entwickelte sich ein geschichtstheologischer Diskurs im Judentum, der unter dem Stichwort 'Holocaust-Theologie' zu einem der zentralen, umfassendsten und kontinuierlichsten Diskurse um die Deutung des Holocaust im innerjüdischen Kontext überhaupt werden sollte; ein Diskurs dazu, der trotz seiner fundamentalen Bedeutung im jüdischen Denken der Gegenwart im deutschsprachigen Raum bislang so gut wie keine Aufmerksamkeit gefunden hat. In Anbetracht der Tatsache, dass - mit Blick auf den Holocaust - hier erstmals ein Staat beschloss, ein ganzes Volk vom Säugling bis zum Greis zu vernichten und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mittel, welche Logistik und Technologie des 20. Jahrhunderts zu bieten hatten, dies auch verwirklichte, und schließlich in Anbetracht der Tatsache, dass diese Vernichtung in bisher ungekanntem Ausmaße in brutaler und demütigender Weise zuerst die Seele der Opfer zu ermorden trachtete, bevor man ihre Körper ermordete, in Anbetracht all dessen ringt man um neue Antworten. Zaghaft zunächst wie etwa der 1897 in Wien geborene, zu den Gründern des Leo-Baeck-Institutes in London gehörende Rabbiner Ignaz Maybaum, der in seinem 1965 erschienen Buch 'The Face of God after Auschwitz', den traditionellen Sünde-Strafe-Gedanken dahingehend modifiziert, indem er sagt, das jüdische Volk sei nicht um der eigenen Sünden willen verfolgt und vernichtet worden, sondern stellvertretend um der Sünden der nicht-jüdischen Völker willen. Entschieden und radikal dann der 1924 in New York geborene Reformrabbiner Richard Lowell Rubenstein im Jahre 1966, der in seinem Buch 'After Auschwitz' erkennt, wie sehr das traditionelle Sünde-Strafe-Muster eine originär jüdische Rechtfertigung des Holocaust liefert, die er für unerträglich hält. Rubenstein sieht statt dessen im Holocaust einen Beweis dafür, dass es Gott, so wie ihn die jüdische Tradition als Herrn der Geschichte bekennt, nicht gibt. Er verkündet eine jüdische Gott-ist-tot-Theologie. Oder der 1900 in Siebenbürgen geborene, in Israel wirkende Rabbiner Eliezer Berkovits, der noch am ehesten versucht, die Gerechtigkeit Gottes zu retten. Er entwirft eine an den sogen. Gottesknechttexten von Jesaja anknüpfende Freiheitstheologie und weist darauf hin, dass Gott bisweilen sein Angesicht vor der Welt verbirgt - hester panim -, um Raum für die Freiheit des Menschen zu schaffen. Das Leid und das Böse sind gewissermaßen die Kehrseite und Konsequenz dieser Freiheit, ohne die es keine geschichtliche Entfaltung des Lebens im Rahmen der Schöpfung geben könnte.

Darüber hinaus gibt es eine ungeheure Vielzahl weiterer Positionen im jüdischen Diskurs nach Auschwitz. Im Zentrum dieses Diskurses steht allerdings weniger explizit die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, sondern nach Gott selbst und vor allem die Frage nach der Gültigkeit des Bundes zwischen Gott und Israel, ja, nach der Möglichkeit einer gläubigen Existenz als Jude und Jüdin nach Auschwitz überhaupt.

Elie Wiesel berichtet folgende Geschichte: "Im Königreich der Nacht nahm ich an einem sehr merkwürdigen Prozess teil. Drei fromme und gelehrte Rabbiner hatten beschlossen, über Gott zu Gericht zu sitzen wegen des Blutbades unter seinen Kindern." In erregter Diskussion erhoben sie verbittert Anklage gegen Gott, der sein Volk dem Vergessen und somit den Mördern anheim gegeben habe; Gott komme seinen Bundesverpflichtungen gegenüber den Juden in sträflicher Weise nicht nach. Nach dem Prozess, an dessen Ende Gott schuldig gesprochen wurde, sagte einer der Rabbiner in Anbetracht der untergehenden Sonne, es sei Zeit zum Gebet. Und sie senkten ihre Köpfe und beteten.

Wenn es einen an die Frage nach dem gerechten Gott anknüpfenden gemeinsamen Grundzug fast aller jüdischen Theologien nach Auschwitz gibt, so ist es am ehesten noch der des Protests gegen Gott, der Anklage wider Gott, wie sie beispielhaft in dem von Elie Wiesel geschilderten Beispiel deutlich wird. Denn fast alle an der Debatte beteiligten jüdischen Denker ringen mit Gott und der Geschichte ihres Volkes, sie machen Gott den Prozess und zugleich beten sie auch zu ihm. Sie üben einen gebundenen Protest: Sie trotzen Gott um Gottes willen; sie protestieren gegen Gott, vor Gott, für Gott.

Den Gedanken, Gott zur Verantwortung zu ziehen, ihn vor Gericht zu stellen, weil er sein Volk nicht wie im Exodus in die Freiheit geführt, sondern den Mördern preisgegeben habe, hat jüngst Rabbiner David Blumenthal in besonders drastischer Weise formuliert. Blumenthal vergleicht das Verhalten Gottes gegenüber Israel mit dem Missbrauch von Kindern durch ihre Väter. Gott habe sein Kind, das Volk Israel, missbraucht. Dieser Missbrauch sei nicht zu erklären oder zu verteidigen, vielmehr ist er sinnlos und irrational. Israel, so Blumenthal, solle daher die Schuld nicht bei sich selbst suchen (kein mipnej chata'neu), sondern müsse wie ein missbrauchtes Kind lernen, die eigene Verletzung, die eigene Wut und Enttäuschung herauszuschreien. Es müsse sein Trauma bearbeiten, vom eigenen Vater missbraucht worden zu sein. Diese Arbeit, so Blumenthal, ist ein therapeutischer Prozess. Der Vater ist als Schuldiger zu benennen, ja, anzuklagen. Im Verlauf dieses therapeutischen Prozesses solle Israel Gott entgegenhalten: "Übe Reue, Herr! Tue Buße!". Um einen erwachsenen, reifen Zugang zu diesem Gott und Vater zu finden, müssen wir, so betont Rabbi Blumenthal, auch seine dunkle Seite akzeptieren und lernen, mit ihr umzugehen. Wir dürfen sie nicht dadurch verdrängen, dass wir nur das Liebe und Gute an Gott zulassen und das Böse von ihm abspalten. Blumenthal verweist darauf, das bereits der Prophet Jesaja Gott beide Seiten zugestanden habe: "Ich bin der Herr, es gibt keinen anderen; Ich forme das Licht und schaffe die Dunkelheit; Ich mache Frieden und erschaffe das Böse; Ich bin der Herr, der all diese Dinge tut." (Jes. 45, 6 u.7)

Nun, das Spektrum im jüdischen Denken nach Auschwitz spannt einen gewaltig großen Bogen. Es reicht, wie wir gesehen haben, von der Selbstanklage - mipnej chate'neu (unserer Sünden wegen...) - wie sie Hartom formuliert, bis hin zur Anklage Gottes, dessen Ungerechtigkeit als Kindesmissbrauch angeprangert wird, wie es Rabbi Blumenthal tut. Vielleicht, so erscheint es mir manchmal, entspricht die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der jüdischen Positionen nach Auschwitz der Vielzahl und Unterschiedlichkeit des Leids, der Ungerechtigkeit und der Tränen, die diese Katastrophe gekostet haben. Dass aber in Anbetracht dieses unauslotbaren Verbrechens die Schöpfung in scheinbar ungebrochenem Lebensrhythmus weiter Tag und Nacht hervorbringt, dem Winter immer wieder ein Frühling folgt, und der Mensch offensichtlich unbeeindruckt und ungehindert fortfährt, Furcht und Schrecken über die Erde zu verbreiten, wird vielleicht für immer ein Rätsel bleiben, wird vielleicht für immer als Wunder erscheinen, von dem man heute nicht mehr sicher zu sagen weiß, ob es der Gleichgültigkeit oder der Gnade Gottes entspringt.

Irgendwo habe ich einmal folgende Frage gelesen: Ist es Gott in seiner Allmacht möglich, einen Stein zu schaffen, der so schwer ist, dass er selbst ihn nicht mehr heben kann? Diese Frage ist beantwortet: Es gibt diesen Stein. Und der Schriftzug, der auf ihm eingraviert ist, lautet: Gerechtigkeit. So schwer wiegt dieser Stein namens Gerechtigkeit, dass weder der Mensch noch Gott ihn zu heben vermögen. Vielleicht bekommen wir diesen Stein nur wieder mit vereinten Kräften ins Spiel, nur wenn Gott und Mensch gleichsam als die Partner, als die sie gedacht sind, gemeinsam versuchen, diesen Stein in Bewegung zu setzen. Wenn es um Gerechtigkeit geht, so wäre die Schlussfolgerung, ist der Mensch nicht nur auf Gott angewiesen, sondern ebenso Gott auf den Menschen.

Vielleicht ist es aber auch gut, dass weder der Mensch noch Gott noch beide zusammen den Stein der Gerechtigkeit in Bewegung zu setzen vermögen. Denn käme dieser Stein ins Rollen, er würde vielleicht den Mensch ebenso wie Gott zermalmen, weil der Mensch ebenso wie Gott vor ihm - das heißt vor der Gerechtigkeit - keinen Bestand hätten. So sehr aus jüdischer Sicht Gott zur Verantwortung zu ziehen ist - "Wo war Gott in Auschwitz?" -, so sehr ist sicher auch der Mensch zur Verantwortung zu ziehen - "Wo war der Mensch in Auschwitz?". Es gibt ein jüdisches Gebet, das vor allem an Yom Kippur, dem großen Versöhnungstag, gebetet wird. Gott hat zwei Stühle, er sitzt auf dem Stuhl der Gerechtigkeit, aber er kann auch auf dem Stuhl der Liebe sitzen - und umgekehrt. Sodann heißt es in diesem Gebet: "Sei es Dein Wille, Heiliger der Welt, aufzustehen vom Stuhle der Gerechtigkeit und dich auf den Stuhl der Liebe zu setzen, damit die Gebete und unsere Buße dich erreichen!" (zit.n. Ginzel 1980, S.417). Vielleicht hofft seit Auschwitz auch Gott, dass die Kinder seines Volkes sich nicht auf den Stuhl der Gerechtigkeit, sondern den der Liebe setzen mögen, damit Seine - Gottes - Worte der Reue und Buße in das Herz Seines Volkes Israel Eingang und Gehör finden können.

LITERATUR

  • Günther B. Ginzel (Hg.): Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen, Heidelberg 1980
  • Christoph Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 2.Aufl. 1996 (EA: 1995).
  • David Blumenthal: Facing the Abusing God. A Theology of Protest, Westminster 1993

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