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Vierecke

Katharsis im Flötenzauber

Wie stark ist nicht dein Zauberton,
Weil, holde Flöte, durch dein Spielen
Selbst wilde Tiere Freude fühlen!
(Wolfgang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte, 1. Aufzug, 12. Auftritt)

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Zauber der Flöte, Flötenzauber, Zauberflötenzauber - alles durchkreuzt ihr durchdringender Ton, unterbricht sein gespenstischer Augenblick, menschliche Zukunft in paradiesischer Freiheit aus Klängen nie gewesenen Ursprungs, archaische Töne der Verzweiflung, der Bedrängung, der Preisung, die uns der Macht ursprünglicher Gefühle aussetzen, Bruch der Kultur, ihres schönen Scheins Betrieb, verwandelnde Macht natürlicher Kraft, Katharsis in tausendfachen Modulierungen des ursprünglichen Triebes, vergessen in Morgen- und Abendland, doch klagender Widerhall von felsigen Schründen und Klüften den Rächern der östlichen Berge, der Rachsucht gen Sonnenuntergang (Re-enter the Ghost):

Hört auf die Flöte, wie sie Geschichten erzählt,
über Trennungen sich beklagt!

Seit ich aus dem Rohrwald geschnitten wurde,
jammern Männer aus meiner Tiefe.

Meine Brust möchte sich vor Sehnsucht zerreißen,
um von den Schmerzen der Wünsche zu erzählen.
Jeder, der sein Wesen verloren hat,
wartet auf die Wiedervereinigung mit ihm.

Mit jedem Volk habe ich gejammert:
Mit den glücklichen und mit den traurigen war ich eins.
In den Gedanken aller war ich die Geliebte,
doch das Geheimnis meiner Tiefe ist nie entdeckt worden.
Mein Geheimnis ist nichts anderes als mein Jammern.

Jedoch Augen und Ohren haben nicht genug Licht,
um das zu begreifen:
Körper und Seele und Seele und Körper sind eins,
doch die Seele zu sehen, ist nicht eines jeden.
Die Stimme der Flöte ist Feuer der Liebe, das in der Flöte brennt.
Es ist das Feuer der Liebe, das im Wein brennt.

Wer hat wohl wie die Flöte Gift und Opium gekostet?
Wer hat die Flöte ausgespielt?
Der Vertraute dieses Geistes ist nicht der Ungeist."

(Mewlana Dschallaluddin er-Rumi, 13. Jhd., zit. n.
Ernesto Grassi, Die Macht der Phantasie, Königstein 1974, S. 208)

"In diesen heil´gen Hallen..."

Die Betonung müsse auf dem Wort "diesen" liegen, meinte das Gespenst des Archivs, als es sich im "Zauberflöten"-Paradies umschaute. Die Arie des Sarastro "In diesen heil´gen Hallen kennt man die Rache nicht" war verklungen und die Hallen dieses Paradieses erschienen ihm so ganz anders als jene Hallen, die es zur Genüge kannte. Es hatte sie mit dem kleinen Imo durchstreift, als sie sich in Ahlen gemeinsam zum Mittelpunkt der Erde aufgemacht hatten, damals noch ohne den starken Zauberton des kathartischen Flötenklangs. Was ihnen in jener Zeit out of joint allerdings schon half, war der alles durchdringende Blick menschlicher Wehmut und Melancholie, der enthüllte: In jenen Hallen kannte man die Rache sehr wohl, obwohl auch sie vorgaben "heilige Hallen" zu sein. Lag hier vielleicht die noch immer nicht schlüssig geklärte Antwort auf meine Frage: Warum reagierte der kleine Imo auf das ihm von seinem Lehrer Tint präsentierte Bild eines Gottes, bei dem allein die Rache liegen solle, mit so heftigem Liebesentzug?

"Ich beschloss, diesen Höheren von nun an nicht mehr zu lieben."
(Imo Moszkowicz, Zauberflötenzauber; s. oben: "Erlösung durch Rache")

Dabei hatte er doch Rabbi werden wollen. Hatte ich seine Kritik göttlichen Racherechts mit der Hamlets verglichen (s. oben: "Wenn das Recht auf Rache sinnt...."), so kam mir nun ein weiterer Vergleich in den Sinn, angeregt durch eine Bemerkung von Imo Moszkowicz in einem Interview des "Tagesspiegels Online Berlin" vom 22. 7. 2000:

Die Claims Conference fragt bei mir an, wie viel Geld ich verdiene; da geht es um Summen von der IG-Farben, für die ich gearbeitet habe, in Buna. Bei all diesen Entschädigungen ist aber nicht berücksichtigt, dass man uns die Jüdischkeit gestohlen hat. Mit der Vernichtung des Judentums, das seine religiöse Basis im östlichen Schtetl hatte, habe auch ich die Basis für mein Judentum verloren...Das ging über die Eltern, über meinen Lehrer, das wurzelte in all dem, was ostjüdisch war.
(In voller Länge nachzulesen auf der Website des Projekts der Universität Paderborn "Jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Westfalen" www.juedischeliteraturwestfalen.de)

Ein Freund, mit dem ich über den Text "Von den vier Ecken der Erde" sprach, empfand die Geschichte als nostalgisch. Vom Inhalt her macht das eigentlich wenig Sinn, ist der doch wenig dazu angetan, nostalgisch verklärte Kindheitserinnerungen zu entdecken. Dennoch umgibt den Text auch für mich eine Aura der Nostalgie, allerdings nicht im Inhalt, sondern in der Form. Sie erschien mir seltsam verwandt mit ostjüdischen Erzählformen, wie sie mir bei Kafka begegnet waren. Beschwört der Text also "nostalgisch" jenes vernichtete Judentum, das im Schtetl seine religiöse Basis hatte und deren Vernichtung für Imo Moszkowicz den Verlust der Basis dieses Judentums bedeutete? Die "heiligen Hallen" - diese und jene - bekämen dann eine äußerst spezifische Bedeutung, die sich nur im Horizont ostjüdisch chassidischer Tradition erschließt.

Die "heil´gen Hallen´ des Zauberflöten-Paradieses würden zu einem Gegenentwurf jener himmlischen Hallen des Gerichts, durch die Kafkas Herr K. im "Prozess"-Roman irrt. Sie hätte dann der kleine Imo melancholisch in ihrer ganzen von Kafka so treffend geschilderten, lächerlichen Schäbigkeit und grausamen Rachsuchtdurchschaut, als er beschloss, "diesen Höheren von nun an nicht mehr zu lieben."

Von Hamlet verschiebt sich der Vergleich auf eine Art "Anti-K.: Während der erzählte Herr K. Kafkas nämlich hilf- und wehrlos der anonymen Rache des Gerichts verfällt, wehrt sich der reale Imo Moszkowicz, indem er eine Alternative zu diesen himmlischen Gerichtshallen der Rache entwickelt: die "heil´gen Hallen" des Zauberflöten-Paradieses. "Ein langer Weg", meinte das Gespenst der Biographie bemerken zu müssen, schämte sich aber sofort für so viel Plattitüde.

Himmlische Gerichtshallen

So allein tritt ins Gedächtnis
Lehre, die den Schein durchbricht:
Das gewisseste Vermächtnis
Vom verborgenen Gericht.

(Gershom Scholem an Walter Benjamin: Lehrgedicht über Kafkas "Prozess", Strophe 5)

Was der Erforscher jüdischer Mystik Gershom Scholem dem assimilierten Westjuden Walter Benjamin in dieser 5. Strophe seines Lehrgedichts als "gewissestes" Vermächtnis mitteilt, war dem ostjüdischen Volksglauben zwar nicht auf diesem Niveau einer philosophisch-theologischen Meditation, wohl aber in der religiösen gelebten Alltagswelt tatsächlich als ein Vermächtnis der Tradition sehr präsent: nämlich als die Gewissheit eines, wenn auch verborgenen, so doch stets gegenwärtigen Gerichts.

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