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Vierecke

Auschwitz – Gott – Chagall
Referat im Kunstmuseum Ahlen am Auschwitz-Tag 2004

Mit den Augen Chagalls: Felix Nussbaum und das Geheimnis der Erlösung
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Nussbaums Traum: Gedächtnis und Erinnerung

Den eigenartig klingenden Teil des Titels "Dem Archiv verschrieben" übernehme ich von dem jüdischen, französischen Philosophen algerischer Abstammung Jacques Derrida. Im Essay "Dem Archiv verschrieben" kommentiert er eine Vorlesungsreihe des jüdischen Historikers Yosef Hayim Yerushalmi zu Freuds Auseinandersetzung mit Moses. Gemeint sind die Arbeiten des Vaters der Psychoanalyse zur Moses-Darstellung Michelangelos in Rom, die Freud ungeheuer faszinierte, und natürlich Freuds letztes großes, explizit jüdisches Werk "Der Mann Moses". Yerushalmi sagt:

Die Leser von "Der Mann Moses" haben bisher überhaupt nicht erkannt..., dass der eigentliche Dreh- und Angelpunkt des Buches...das Problem der Tradition ist, und zwar nicht die Frage nach deren Ursprung, sondern vor allem die nach ihrer Dynamik. (Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum, Frankfurt 1999, S. 56)

Derrida greift das auf und untersucht die Gedächtnisstruktur dieser Tradition, innerhalb der sich die Dynamik jüdischen Erinnerns entfaltet. Sollte die Psychoanalyse eine diesem Gedächtnis und seiner Dynamik höchst adäquate Wissenschaft sein? Eine Frage, die bei beiden Autoren im Hintergrund steht und auch in der Auseinandersetzung zwischen Freud und C.G.Jung eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Wie dem auch sei, das Gedächtnis der jüdischen Tradition ist wie das Unbewusste, das Freud analysiert, eine Art von vernetztem Archiv und dieser Art von "Archiv", so Derrida, sei jüdisches Erinnern "verschrieben".

Wie Christoph Münz in seiner Arbeit zur jüdischen Holocaust-Theologie mit dem bezeichnenden Titel "Der Welt ein Gedächtnis geben" gezeigt hat, unterscheidet sich diese Gedächtnisstruktur und die damit verbundene Form des Erinnerns fundamental von dem, was eine christlich geprägte Kultur unter Geschichte und Erinnerung versteht. Genau hier, so Münz, verlaufe eine der grundsätzlichsten, völlig unverstandenen Trennungslinien zwischen jüdischer und christlicher Kultur. Gerade von der christlichen Mehrheitskultur werde das aber sträflich ignoriert. Man "erinnere" doch wirklich genug! Fragt sich nur, wie! Der völlig an diesem Kern des Problems vorbeigehende, sogenannte "Historikerstreit" ist für dieses "Wie" ein höchst beredtes und peinliches Beispiel.

Historisches Erinnern, also das, was Historikerzunft, Geschichtslehrer und Leiter von Gedenkstätten mehr oder weniger professionell betreiben, entspricht genau nicht dem, was der Erinnerungsstruktur des jüdischen Gedächtnisses angemessen wäre. Bereits in den 30er Jahren hat Walter Benjamin das in seinen "Geschichtsphilosophischen Thesen" angesichts des heraufziehenden Faschismus massiv angemahnt. Gegen den Begriff eines historischen Erinnerns setzte er den des "Eingedenkens". Mein theologischer Lehrer Johann Baptist Metzhat immer wieder versucht, dieses Benjaminsche, zutiefst jüdische Erinnerungskonzept in seiner "Politischen Theologie" fruchtbar zu machen und sprach mit Benjamin von Erinnerung als einer "anamnetischen Solidarität mit den Toten". Über Metz, der auch Christoph Münz in dessen Theorieansatz prägt, fand das schließlich Eingang in das Synodenpapier der katholischen Bistümer Deutschlands "Unsere Hoffnung", das sich 1976 endlich zueiner halbwegs klaren Stellungnahme zu Auschwitz durchrang. Im Zusammenhang mit Auschwitz wird dort "anamnetische Solidarität" und eben nicht "historische Erinnerung" eingefordert. Das ist etwas ganz Anderes.

Ich möchte dazu recht praxisnah eine Passage aus Christoph Münz"Der Welt ein Gedächtnis geben" zitieren, die ich als Geschichtslehrer und auf dem Hintergrund täglicher Unterrichtserfahrung nur voll unterschreiben kann. Gerade mit Blick auf die Zukunft der Erinnerung an den Holocaust kommt ihr höchste Bedeutung zu:

Vom Standpunkt dessen aus betrachtet, was wir als jüdisches Gedächtnis
beschrieben haben, neigen Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung
dazu, wenn schon nicht die Geschichte aus den Menschen auszutreiben, so doch
die Geschichte bzw. den Ertrag, den die Geschichtsschreibung aus ihr zieht, nicht
in die Köpfe und Herzen der Menschen hineinzubekommen. Damit aber stünde
die Geschichtswissenschaft – bildlich gesprochen – in der Gefahr, ein
aufgeblähter Wasserkopf ohne Verbindung zum großen Rest des Leibes zu sein.
Kopfschüttelnd steht die Geschichtswissenschaft diesem großen Rest des Leibes
gegenüber und wundert sich, dass dieser Leib nicht den Erkenntnissen des
Kopfes folgt. Wie sollte er aber auch, wenn er vom Rumpf getrennt ist? Eine
Verbindung zwischen dem Kopf der Geschichtswissenschaft und dem Leib der
Existenz könnte hier nur ein entsprechend kollektives und kulturell gepflegtes
Gedächtnis herstellen." (Christoph Münz a.a.O., S. 444)

Eine "europäische Kultur des Erinnerns" hat Bundestagspräsident Thierse heute anlässlich des Auschwitz-Tages gefordert. Hans Werner Gummersbach bemerkt sehr treffend in seinem Geleitwort zur Neuauflage der Autobiographie von Imo Moszkowicz "Der grauende Morgen": Eine allgemein gültige Antwort nach der Zukunft des Erinnerns und Gedenkens haben wir noch nicht gefunden. (S. 5) Vielleicht hilft es der Suche weiter, wenn wir uns zunächst einmal der Differenz zwischen historischem Erinnern und jüdischem Gedenken bewusst werden. Denkanstösse gibt die Ahlener Website "Netz der Steine", auf der Walter Benjamins Denkansatz im Rahmen eines Projekts zum jüdischen Friedhof Ahlens Anwendung findet: Erinnerung an eine Abwesenheit.

Ich kann an dieser Stelle nicht systematisch weiter darauf eingehen. Der nun folgende, mit Blick auf die Bilder Chagalls und Nussbaums eher assoziative Teil meines Referats soll aber eine erste Ahnung davon vermitteln, was mit dieser Differenz gemeint sein könnte. Damit komme ich zu den "Brautmännern" in Nussbaums Traum und zu der Perspektive, die Geschichte des "Malers im Atelier" als Traumgeschichte, eine Geschichte des Gedächtnisses, zu vernehmen, die "dem Archiv verschieben" ist.

Verdrängtes Gottesbild

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