Woche der Brüderlichkeit Projekte |
Auschwitz – Gott – Chagall |
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Nussbaums Traum: Messianische Zeit Nussbaums Traum gibt dieser Identität Ausdruck im Männlichkeitsideal des "Zaddik", des "Gerechten". In der kabbalistischen Tradition verkörpert der "Gerechte" die Phallus-Sefira Yezoth, die im Symbol des Mondes über dem Maler und dem "Brautmann" am nächtlichen Himmel des Sabbathabends steht. Damit kommen wir nun endlich zu dem wohl Befremdendsten des Bildes: Die Männer, die da ins Atelier eindringen, sind ganz offensichtlich Transvestiten. Warum Männer in Brautkleidern? Nirgendwo ist so etwas überliefert, nicht aus dem kabbalistischen Mittelalter, nicht aus dem chassidischen Ostjudentum. Eine historische Deutung dürfte also kaum eine Chance haben. Dennoch muss gerade in diesem am meisten Absonderlichen der spirituelle Kern stecken, den das Archiv des Gedächtnisses offen legen will. Um den verzwickten Code zu knacken, hilft die mondige Phallus-Sefira Yezoth weiter. Eine äußerst textnah an den kabbalistischen Quellen mehrerer Jahrhunderte erarbeitete Studie des Departments für Jüdische Studien an der Universität New Yorkhat kürzlich herauszufinden versucht, was es mit dieser kabbalistischen Phallussymbolik denn nun eigentlich auf sich haben könnte. Das Ergebnis lässt sich so zusammenfassen: Das Männlichkeitsideal, das die Kabbala im "Gerechten" verkörpert sieht, ist von androgynen Vorstellungen bestimmt. Wie es dem Gerechten obliegt, Gott seiner verstoßenen Schechina zuzuführen, obliegt ihm das auch bei sich selbst, nämlich das Männliche mit dem Weiblichen androgyn zu vereinen. Allerdings ist damit der Clou noch nicht erfasst, der sich auf einer geschichtstheologischen Ebene bewegt und den Kern der New Yorker Studie bildet. Zunächst einmal läuft die Androgynität auf das Zielsymbol eines androgynen Phallus hinaus. Das kabbalistische Gottesbild ist eindeutig extrem phallozentrisch. Allerdings – und das ist der springende Punkt – das spirituelle Ziel besteht in der Wiederherstellung einer geheilten Phallozentrik, die das Weibliche, die Schechina, nicht länger ins Exil verstößt, sondern heimholt. Das meint "Wiederherstellung des androgynen Phallus". Wird das erreicht, dann ist das der Einbruch der messianischen Heilszeit in den Unheilszustand der Welt. Es öffnet sich die kleine Pforte, durch die der Messias in die Geschichte tritt. So gesehen, repräsentiert der Rotbart in dem Brautkleid genau diesen androgyn geheilten Phallus. Geschichtstheologisch betrachtet, verkörpert er dann aber etwas, das wenige Jahre später Walter Benjamin in seinen "Geschichtsphilosophischen Thesen" die "Splitter der messianischen Zeit" nannte, die es aufzusammeln gelte. Dass sich ausgerechnet ein geschichtstheologisches Zeitmodell, nämlich das der messianischen Zeit, hinter dem Transvestiten-Symbol in Nussbaums Traum verbirgt, wird zunächst sicher verblüffen, ist aber in seiner Tragweite kaum zu überschätzen. Es dürfte sich hier tatsächlich um den spirituellen Kern des gesamten Bildes handeln, wenn wir dieses als Ausdruck eines Aufstands gegen die christlich bürgerliche Assimilation verstehen. Die "Splitter der messianischen Zeit" sprengen nämlich aus der Tiefe des jüdischen Gedächtnisses sowohl christlich religiöse, als auch bürgerlich wissenschaftliche Zeitbegriffe jener wie unserer Epoche. Sie sprengen das Kontinuum historischer Zeit und historischer Erinnerung, die wie in einem riesigen Container wahllos die Ereignisse der Geschichte horten und zwischen NS-KZs und Stalin-Gulags nicht länger unterscheiden. Ohne die Splitter der messianischen Zeit werden die Hohmänner aller Coleur sehr bald triumphieren und niemand wird es mehr merken. "Wenn die Untat kommt wie der Regen fällt, wer ruft dann noch: halt?", zitiert Johann Baptist Metz Berthold Brecht und fährt fort: "Katastrophen werden im Rundfunk zwischen zwei Musikstücken gemeldet – die Musik tönt weiter, wie der hörbar gewordene Lauf der Zeit, der unbarmherzig alles überrollt und durch nichts zu unterbrechen ist." "Das Gegenteil von Erinnerung ist nicht Vergessen, sondern Gleichgültigkeit!", sagt Elie Wiesel. Sie ist das bereits sichtbare Resultat aktueller Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung. Der Brand Dresdens und die Feueröfen von Auschwitz, wo ist da noch der Unterschied? Der Untergang Hamburgs, ein "Holocaust der Deutschen"! Bald wird mit Sicherheit auch noch Stalingrad in dieser Reihe auftauchen. Dresden, Auschwitz, Stalingrad – Auschwitz wird nicht vergessen, nein, es wird im Zeitcontainer der Historie eingeebnet. Historischer Zeit ist alles gleich gültig, Gleich-Gültigkeit im wahrsten Sinne des Wortes. Jedem das Seine! Unterbrechung des Laufs der Zeit durch den Einbruch messianischer in historische Zeitbegegnet uns wie in Nussbaums Traum auch in dem Bild Chagalls, das hier in der Ausstellung dem "Juden in Rot" direkt gegenüber hängt. Es trägt den Titel "Die Erscheinung". Dieses Bild aus dem Jahr 1917, die Gestaltung eines persönlichen Traums Chagalls, malt die Botschaft des "Juden in Rot" gleichsam weiter. Dominantem Rot hier, steht dort leuchtendes Weiß gegenüber, das von Blau durchtönt wird. Löst Chagall den Rot-Weiß-Gegensatzbeim Bild des "Rotbarts" im Grün der Hand auf, die sich heilend der Schechina entgegenstreckt, bricht beim Dialog beider Bilder ein Engel mit der Farbe Blau in diesen Gegensatz ein. Blau ist aber im kabbalistischen Farbcode die Farbe der Schechina. Weiß als Farbe der Sefira Chessed haben wir beim "Juden in Rot" bereits als Symbol der Gnade undLiebe Gottes kennen gelernt. Mit ihr vereinigt sich in der "Erscheinung" nun die Schechina. Sie ist heimgekehrt, hat sich mit Gott vereint. Diese frohe Botschaft verkündet der Engel auf Chagalls Bild beiden Malern im Atelier: "Die Heilszeit ist angebrochen. Die kleine Pforte hat sich geöffnet, durch die der Messias in die Geschichte treten kann!" Das Bild wurde vor dem Holocaust gemalt. Nach Auschwitz sollte die messianische Hoffnung, die sich im Weiß und Blau der "Erscheinung" Ausdruck gibt, eine politische Erfüllung finden, die genau diese Farbsymbolik der kabbalistischen Tradition aufgriff. Die Symbolik war dem allgemeinen Bewusstsein längst präsent in den blauen Schaufäden des weißen Tallit, des Gebetsschals. Hier entspricht sie dm bereits zitierten Rat des Baal Shem Tov: Bete stets für Gottes einwohnenden Herrlichkeit, dass sie aus der Verbannung erlöst werde!" Im blau durchtönten Weiß des Gebetsschals sollte das Exil der Schechina stets erinnert werden. Nach dem Holocaust wurden das Weiß und das Blau die Farben der Flagge des 1948 gegründeten Staates Israel. Die Schechina Gottes ist mit ihrem Volk aus dem Exil und aus dem Feuer der Katastrophe nach Eretz Israel heimgekehrt. Diese Heimkehr der einwohnenden Herrlichkeit Gottes in ihr Land wurde nicht nur individuell, sondern auch staatsoffiziell als Ereignis mit messianischer Qualität gewertet. Die erste offizielle Gedenkstätte des Holocaust wurde Mitte der 50er Jahre am Berg Zion eröffnet, die "Chamber of Holocaust". Der Berg Zion gilt als Begräbnisstätte König Davids, von dem der Messias abstammen sollte, und deshalb schon immer als Ort und Symbol der Erlösung."Implizit, so Christoph Münz wird also eine Verbindung zwischen der Katastrophe des europäischen Judentums mit der Wiedererrichtung des Staates Israel als einem Akt der Erlösung hergestellt, denn die Wiedererrichtung des Staates Israel, die Heimkehr der Juden nach Palästina, gilt traditionell jüdischer Auffassung nach von jeher als der Beginn des messianischen Zeitalters." (Der Welt ein Gedächtnis geben, a.a.O., S. 191) Unterstrichen wird das durch ein offizielles Gebet des Oberrabbinats, das mit den Worten beginnt: "Geliebter Vater im Himmel...segne Du den Staat Israel, den Beginn der Morgenröte unserer Erlösung!" (zit.n.ebd., S. 299) |
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