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Vierecke

Hamlets gespenstische Augenblicke

Beginnen wir mit der naheliegenden Frage, wann und wie das Gespenst denn überhaupt erscheine. Ob es sich dabei tatsächlich um ein Gespenst handelt oder ob sich ein Phantom in mehrere Gespenster vervielfacht, wollen wir dabei zunächst unberücksichtigt lassen.
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Auf unsere Frage nach dem Wann und Wie des Erscheinens - in Bühnensprache besser gefragt nach dem Wann und Wie des Auftretens - antwortet eine Passage aus "Marx´ Gespenster" des französischen Philosophen Jacques Derrida, eines in Algerien geboren Juden, der uns auf dem Weg zum irritierend Unheimlichen in Moszkowicz´s "Zauberflöten" - Paradies noch oft begegnen wird:

Gespenstischer Augenblick, ein Augenblick, der nicht mehr der Zeit angehört, wenn man darunter die Verkettung modalisierter Gegenwarten versteht (vergangene Gegenwart, aktuelle Gegenwart, `jetzt´, zukünftige Gegenwart). Wir untersuchen diesen Augenblick, wir fragen uns nach diesem Augenblick, der sich der Zeit nicht fügt, zumindest nicht dem, was wir so nennen. Verstohlen und unzeitig, gehört das Erscheinen des Gespensts nicht dieser Zeit da an, es gibt nicht die Zeit, nicht diese da: `Enter the Ghost, exit the Ghost, re-enter the Ghost" (Hamlet).
(Jacques Derrida, Marx´ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt 2004, S. 12 - Infos zu Derridas Denken und jüdischer Tradition)

Auftritt, Abgang, Wiederholung. Das Gespenst erscheint als Wiedergänger, geht ab und kehrt wieder nicht in einem leeren Kontinuum modalisierter Gegenwarten, sondern es unterbricht in dieser Serie der drei Augenblicke für Hamlet stets diese Zeit da: ihre gewohnte Ordnung. So irritierend - störend und verstörend - tritt es erneut auf, wenn wir Imo Moszkowicz nach Ahlen begleiten, seine Geburtstadt. Hamlet beschwichtigt erfolglos: Ruh, ruh, gestörter Geist..."

Störend betritt der die Bühne der Erinnerungen und indem er als Geist zunächst wieder verschwindet, holt er das verstörende Bild eines nur scheinbar vergangenen Augenblicks in eine sich unheimlich verändernde Gegenwart zurück: Ahlens Stadtplan, wie ihn der kleine Imo deutete, als auf der Oststraße die Hakenkreuzfahnen wehten. Der Geist kehrt zurück und Hamlet erkennt: "The time is out of joint."

Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram,
dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam!
Nun kommt, lasst uns zusammen gehn.
...und, bitt ich, stets die Finger auf dem Mund...

(Hamlet, 1. Aufzug, 5. Szene, zit. n. J. Derrida, Marx´ Gespenster, S. 15)

Wie sich Imo Moszkowicz bei einer Probe mit Gustaf Gründgens zu Sartres "Die Fliegen" mit dem nach Argos heimkehrenden Rächer Orest verschwimmen sieht, so sehe ich ihn hier mit dem Rächer Hamlet verschwimmen, wie ihn Derrida in seiner Deutung der Shakespeare´schen "Tragödie der Rache" (Marx´ Gespenster, S. 40) entwirft. Diese sieht Imo Moszkowicz so:

Der einmalige Shakespeare übermittelt uns in diesem Werk - wie Mozart in seiner "Zauberflöte" - dass Rache menschenunwürdig ist und aus unserem Lebenswörterbuch ersatzlos gestrichen gehört. Wer dieser Meinung über "Hamlet" nicht folgen mag, der braucht nur den ursprünglichen Titel zur Kenntnis zu nehmen: "Der Rächer Hamlet". Kann ein Inhalt bereits im Titel pointierter benannt werden?
(Zauberflötenzauber, S. 119)

Und zu Sartres Orest:

War ich nicht wie ein Orest nach Hause gekommen, meine Geschwister, meine Mutter suchend?...Hatte ich denn überhaupt noch eine eigene Seele? War die meine nicht die Seele eines Orest, der die seine für mich in Auschwitz hat hergeben müssen?
(Imo Moszkowicz, Der grauende Morgen, Münster 2004, S. 10, 13)

Derrida sagt über seine durch die antijüdischen Gesetze des Vichy-Regimes in Algerien geprägte Kindheit: Wahrscheinlich hatte dies merkwürdige und komplizierte Auswirkungen auf meine Beziehung zur französischen Kultur, zur französischen Sprache." (Jüdisches Denken in Frankreich, hrsg. v. E. Weber, Frankfurt 1994, S. 85) Dabei betont er nachdrücklich, es seien die ihn damals umgebenden, konkreten Franzosen gewesen, die er als Kind verantwortlich machte für das, was geschah. Wen machte Imo Moszkowicz als Kind verantwortlich, als die Zeit aus den Fugen geriet und ihm dafür Ahlens Stadtplan beredt Zeugnis gab? Welches Gespenst beschwört sein erneutes Zugehen auf die konkreten Ahlener? Wie kehrt es heimlich als das verstörend Unheimliche in seinem Zauberflöten-Paradies zurück auf die Bühne der Oper?

Ahlens krummer Stadtplan

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