„Das Vermächtnis des Heimkehrers“

Gedanken zum Tod von Imo Moszkowicz

Von Dietmar Hecht (Forum Brüderlichkeit)


Imo Moszkowicz

Stadthalle Ahlen im März 2006. Schüler proben eine Szene aus Imo Moszkowiczs Autobiographie „Der grauende Morgen“. Es muss die Zeit um 1950 sein. Der junge Imo erarbeitet als Regieassistent von Gustaf Gründgens in Düsseldorf Jean-Paul Sartres Schauspiel „Die Fliegen“. Der junge Held Orest ist als Rächer seines ermordeten Vaters heimgekehrt. Seine Vaterstadt wird von einer Plage heimgesucht: Fliegen, die Rachegeister ungesühnten Mordes. „War ich nicht ein Heimkehrer wie Orest?“, fragt sich Imo und meint seine Heimkehr als 20jähriger aus Auschwitz nach Ahlen 1945.

Renate und Imo Moszkowicz bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft

Renate & Imo Moszkowicz bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft

Als die Schüler wenige Tage später – oder sind es 60 Jahre? – diese Szene in Ahlens Stadthalle auf die Bühne bringen, sitzt Imo Moszkowicz vor ihnen, umgeben vom Applaus der Bürger seiner Vaterstadt Ahlen. Der Heimkehrer nun ihr Ehrenbürger. Übertönte das Brausen des Applauses nur das leise Summen der Fliegen oder war es tatsächlich verstummt? War das störend lästige Ungeziefer einfach so davon geflogen, endlich in Ahlens Nachthimmel verschwunden?

Imo Moszkowicz (links) und Gustaf Gründgens

Imo Moszkowicz (links) und Gustaf Gründgens

Imo Moszkowicz

Imo Moszkowicz
Foto: Maria Kessing (AT)

Ich kannte Imo Moszkowicz damals bereits 20 Jahre. Die Bedeutung der Frage nach den geisterhaft umherschwirrenden Fliegen war mir in ihrer ganzen Schärfe aber erst an diesem Abend in Ahlens Stadthalle so richtig bewusst geworden. Sie schien und scheint mir noch immer ein Schlüssel zum „Geheimnis Imo Moszkowicz“ zu sein. Denn birgt jene Macht nicht ein Geheimnis, der es gelingt, quälende Rachegeister zu besänftigen? Die Aufgabe, ihm nachzuspüren, könnte ein Vermächtnis sein.

Als eine erste Spur sehe ich Imo Moszkowiczs Foto auf dem Cover des Programmheftes der „Woche der Brüderlichkeit“ 2006, das wir in diesem Jahr noch einmal abgedruckt haben. Es zeigt ihn mit einer viel sagenden Geste: den Kopf leicht geneigt in die erhobenen Finger der Hand gestützt, „gestus melancholicus“, wie diese Geste seit der Antike genannt wird. Sie verweist uns auf jene Macht, die den Hass eindämmt und die Wünsche nach Rache zur Ruhe kommen lässt: die Melancholie. Suchte Imo Moszkowiczs Mithäftling in Auschwitz, der spätere Träger des Friedensnobelpreises Elie Wiesel, im Geist des chassidischen Judentums noch nach „Geschichten gegen die Melancholie“, gibt es für Imo Moszkowicz diesen religiösen Trost nicht mehr. Für ihn ist Gott in Auschwitz gestorben. Was bleibt, ist, um es mit Elie Wiesel zu sagen, „ein vollkommenes, absolutes Schweigen – und darüber hinaus ein Geheimnis, das unergründlich bleibt.“

Imo Moszkowicz hat es gelebt. Menschliches Handeln, nicht göttlicher Trost erlaubte ihm schließlich, die Geschichte nicht nur im grellen Widerschein der Gasflammen, sondern auch in einem milderen Licht zu sehen.

Bei seinem letzten Besuch in Ahlen während der „Woche der Brüderlichkeit“ 2007 brachten die Schüler nicht wie im Vorjahr die Heimkehr des Orest, sondern die rettende Tat westfälischer Bauern auf die Bühne. Wenn überhaupt, dann waren es Taten wie die dieser Bauern, die ihm die Fliegen verjagten. Die Aufforderung, solches Tun immer wieder neu zu wagen, gehört zum bleibenden Vermächtnis dessen, der wie einst Orest in seine Vaterstadt heimkehrte.