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Gedächtnis oder Historie?
Erinnerungsarbeit in interkultureller Sprachverwirrung

Ein besonders bezeichnendes Beispiel interkultureller Verwirrung ist der viel zitierte Satz des chassidischen Baal Schem Tov "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung". Dessen kabbalistischer Ursprung in der jüdischen Kultur wird von den Sonntagsrednern der christlichen Mehrheitsgesellschaft in der Regel ignoriert.
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Der Satz wird "historisiert": Aus "Erinnerung" wird kurzerhand "historische Erinnerung". Wir müssen uns historisch erinnern und das soll dann irgendwie "erlösen". Von was und wozu, das bleibt freilich offen. Wovon und wozu soll Historie auch erlösen?! Dass es genau um diese Historie auch gar nicht geht, sondern um ein spirituelles Erinnern, die Erinnerung des Unheils in Gott und dessen Heilung bzw. "Erlösung" durch Erinnerung im Sinne eines tikkun olam, behandelt das bereits genannte Referat zum Auschwitz-Tag im Abschnitt

Marc Chagalls "Jude in Rot": Das Geheimnis der Erlösung

Bereits am Beispiel dieser Sprachverwirrung beim Begriff der Erinnerung wird ein Problem angesprochen, das herausgearbeitet zu haben, ein großes Verdienst der Dissertation von Dr. Münz ist "Der Welt ein Gedächtnis geben" (Gütersloh, 2. Aufl. 1996). Es geht um den unterschiedlichen Umgang mit Geschichte und historischer Erfahrung im jüdischen Gedächtnis einerseits und in einer historischen Wissenschaft andererseits, die bei aller Säkularisierung ihren Ursprung in evolutiven Konzepten christlicher Heilsgeschichte nicht verleugnen kann. Im Rückgriff auf die Arbeit von Dr. Münz hatte Dietmar Hecht diesen weit reichenden kulturellen Unterschied im Referat zum Auschwitz-Tag am 27. Januar 2004 bereits angeschnitten und auf dessen praktische Konsequenzen für die "Erinnerungsarbeit" hingewiesen:

Nussbaums Traum: Gedächtnis und Erinnerung

In der Gesprächsrunde am 9. November 2004 konnte das nun von Dr. Münz selbst weiter vertieft werden. Konkret zeigte er das darin liegende Konfliktpotential am Briefwechsel der beiden Historiker Saul Friedländer und Martin Broszat. In seiner genannten Dissertation "Der Welt ein Gedächtnis geben" geht er darauf auf den Seiten 65-68 ausführlich ein. Fazit am Abend des 9. Novembers in Ahlen:

In der Kontroverse der beiden renommierten Historiker begegnet uns der klassische Fall eines misslungenen interkulturellen Dialogs. Er scheiterte nicht etwa an unterschiedlichen Auffassungen über dieses oder jenes historische Detail, sondern an mehr oder weniger unbewussten Voraussetzungen, die unter der Oberfläche rationaler "Objektivität" genau diese Scheinwelt historischer Wissenschaft letztlich zum Einsturz brachte: Broszat brach das Gespräch ab, als ihm Friedländer das vorhielt, was ihm selbst vorher von Broszat vorgehalten worden war - "Subjektivität" (der Opfer). Als sich Broszat im Gegenzug mit der Möglichkeit einer "Subjektivität" der Täter-Perspektive konfrontiert sah, folgte umgehen der Abbruch. Die "Objektivität" der Täter-Historie wollte (oder konnte) sich nicht auf die "Subjektivität" des Opfer-Gedächtnisses einlassen.. Münz zitiert dazu in seiner Dissertation den israelischen Historiker Dan Diner:

Dieser decke nämlich deutlich den eigentlichen Konflikt auf, der hinter der Broszat´schen Aufteilung zwischen wissenschaftlicher und mythischer Erinnerung steht. Es "hat sich im Diskurs um den Nationalsozialismus so etwas wie eine Dichotomie der legitimen Wahrnehmungen eingeschliffen, nämlich dass es so etwas gibt wie eine legitime Täterperspektive, die weitgehend aus den Akten heraus sich ohnehin ergibt und im Gegensatz dazu die Opferperspektive. Wobei diese Opferperspektive, ich würde fast sagen, mit so etwas wie mit einer invalidisierenden Nachsicht des Opfers konzidiert wird, denen so etwas wie Anspruch auf Subjektivität gebührt." (zit. n. Münz, Chr., Der Welt ein Gedächtnis geben a.a.O., S. 66, Anm. 74)

Dazu die Auseinandersetzung mit der Friedländer-Broszat-Kontroverse in der Arbeit von

Shelley Berlowitz, Zwischen Geschichte und Gedächtnis:
Zur Historisierung des Nationalsozialismus (Volltext 114 Seiten)

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