Woche der Brüderlichkeit Projekte |
Auschwitz – Gott – Chagall |
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Nussbaums Traum: Sexuelle Bilder Zur Zeit Nussbaums, das muss man dazu wissen, war die Kabbala in Deutschland tot. Kaum jemand in jüdischen Kreisen hatte von ihr auch nur die blasseste Ahnung, und wer sie hatte, so berichtet Scholem in seinen Erinnerungen "Von Berlin nach Jerusalem", hütete sich, etwas davon preiszugeben. Es wäre schlicht peinlich gewesen, in den Ruf zu kommen, sich mit so mystizistischem Zeug zu befassen. Das einflussreiche Geschichtswerk von Heinrich Graetz "Geschichte der Juden"trug wesentlich mit zu einer solchen Einstellung bei. Scholem sieht darin zwar eines der "bedeutendsten Meisterwerke jüdischer Historiographie". Da es sich aber ganz dem Geist und der Struktur westlicher Geschichtsschreibung angepasst hatte, konnte es mit mystischer Spritualität abolut nichts anfangen und verteufelte die Kabbalisten als "Finsterlinge", die jüdische Emanzipation und Assimilation behinderten. Als solche dringen sie in Nussbaums Atelier ein: Repräsentanten einer finsteren Tradition gegen die moderne, aufgeklärte Einstellung des Künstlers, der sich am Abend des Sabbath dem Malen eines nackten Paares hingibt. Sehen wir das jedoch mit den Augen Chagalls im Horizont des kollektiven Gedächtnisses, dann bearbeitet Nussbaums Traum dieses Verhältnis zwischen künstlerischem Schaffen und mystischer Tradition in einer Weise, die in einem Traumbild zeigt: Nussbaums der Moderne verpflichtete Kunst trägt dazu bei, das Exil der Schechina nicht zu vergessen. Sie ist Erinnerung im Sinne des jüdischen Gedächtnisses. Was er dabei macht, ist vom Standpunkt assimilierter Religionsvorstellungen allerdings dreist: Er malt die mystische Vereinigung von Malkuth und Tifereth, den Einzug der Schechina in Gottes Brautgemach, sexuell naturalistisch als nacktes Paar. Sollte das aber vielleicht durchaus im Einklang mit der mystischen Tradition stehen? Es ist gängige Meinung der Nussbaum-Interpretation, dass der Mond im schwarzen Quadrat hinter dem Rotbart den Beginn des Sabbats am Freitag Abend ankündigt, was in Verbindung mit den "Brautmännern" zwar plausibel ist, im Sinne der kabbalistischen Tradition allerdings zu kurz greift. Zwischen dem Mond und der Sexualität des nackten Paares besteht in ihr nämlich ein tiefer symbolischer Zusammenhang, der den kabbalistischen Skandal auf die Spitze treibt. Graetz hatte mit seinen "Finsterlingen" wohl doch recht! Während die Sefira Tifereth mit der Sonne in Verbindung gebracht wird, spielt der Mond in der Symbolik derneunten Sefira Yezoth eine zentrale Rolle. Die Kabbalisten haben sich nicht gescheut, diese Sefira Yezoth (das "gründende Fundament") auf den Phallus zu beziehen. Mit der neunten Sefira Yezoth senkt sich der Himmelsbaum heilend in die zehnte Sefira hinab, vereinigt sich Tifereth, das "Herz des Himmels", heilend mit Malkuth, Gott mit seiner weiblichen Schechina. Die Symbolik ist da sehr eindeutig und wird von Leuten, die sie zu lesen wissen, auch so verstanden. Ein Aha-Erlebnis hatte ich dazu an Brandeis-University, der jüdischen Elite-Universität in den USA, die auch von christlichen Studenten besucht wird. Zu Ostern, das damals mit Pessach zusammen fiel, veranstalteten Gruppen beider Religionen einen Mal-Workshop zum Thema "Gott". Es sollten Vorstellungen von Gott gemalt werden. Eines der jüdischen Bilder fiel mir besonders auf. Sie können es sich auf der Webseite meiner Broschüre "Jenseits der Spaltung. Heilende Begegnung mit Bildern jüdischer Lebenswelten" ansehen: Der Lebensbaum der Kabbala Es zeigt vor einem schwarzen, mit Sternen übersäten Hintergrund den kabbalistischen Himmelsbaum der zehn Sefiroth in der klassischen Form. Vor der neunten Sefira Yezoth aber brannte ein Feuer. Ich fragte den Maler, was das bedeute, und er sagte mir: "Das ist der Phallus Gottes, das Feuer ist Gottes sexuelle Kraft." Es hat mich sehr beeindruckt, wie Sexualität und Gottesbild hier verschmolzen und keineswegs Gegensätze waren. Ich machte mich dann in der Uni-Bibliothek schlau, in der es eine Fülle kabbalistischer Werke gab, die von den Studenten auch benutzt wurden. Dabei fand ich heraus, dass solche sexuellen Bilder die Kabbala seit ihrer Entstehung im Mittelalter prägten und in der kabbalistischen Tradition keineswegs anstößig sind. Es wäre deshalb seltsam, kämen sie in Nussbaums kabbalistischem Traum nicht vor, der gerade in solchen starken Bildern seine kompensatorische Kraft entfaltet. In der Traumperspektive wird so das Malen des nackten Paares am Abend des Sabath ein Teil von Nussbaums Jüdisch-Sein. Sein Kunstschaffen im Projekt der Moderne setzt hier das Projekt der Tradition kontinuierlich fort. In Nussbaums Traum verschwindet der Zwiespalt. Der Maler im Atelier versöhnt sich mit dem Rotbart im Brautkleid, über dem der Mond am Himmel steht. Das Phallussymbol des Sabbathmondes und das naturalistisch gemalte nackte Paar sind dem gleichen spirituellen Modell verpflichtet. Was Nussbaum die assimilierte Vätergeneration nicht geben konnte, öffnet ihm das Archiv des Gedächtnisses: Zugang zu jüdischer Identität jenseits bürgerlicher Assimilation. |
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